Oktober 2015

Neues aus der Rechtsprechung

Nächtliches Türabschließen ohne Genehmigung stellt einen unterbringungsähnlichen Freiheitsentzug dar.

(Beschluss des BGH vom 07.01.2015, XII ZB 395/14)

In einer Einrichtung, die über geschlossene und offene Wohngruppen verfügt, wurde auch in einer offenen Wohngruppe die Außentür zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr abgeschlossen. Die Bewohner verfügen nicht über Schlüssel zum Öffnen der Tür. Es ist kein Pförtner anwesend, der Bewohnern die Tür öffnen kann, die die Wohngruppe nachts verlassen wollen. Die Bewohner können sich an die Pflegekraft wenden und um Türöffnung bitten, sie können bei deren Abwesenheit den Notrufknopf betätigen. Die Öffnung der Tür kann bis zu 30 Minuten dauern.

Der gesetzliche Betreuer einer Bewohnerin beantragte deren Unterbringung. Das zuständige Betreuungsgericht (Amtsgericht) und das Beschwerdegericht (Landgericht) lehnten den Unterbringungsbeschluss ab, da hierfür nach der Einschätzung der Gerichte kein Bedarf bestand. Aus deren Sicht stellte das nächtliche Abschließen der Außentür weder eine Unterbringung, noch eine unterbringungsähnliche Maßnahme dar, da die Tür innerhalb von 30 Minuten geöffnet wird.

Der Bundesgerichtshof schloss sich der Auffassung dahingehend an, dass das nächtliche Abschließen der Tür keine Unterbringung im Sinne des § 1906 Abs. 1 BGB ist. Allerdings lag nach Auffassung des Gerichts sehr wohl eine genehmigungspflichtige unterbringungsähnliche Maßnahme gemäß § 1906 Abs. 4 BGB vor, so dass es der Rechtsbeschwerde stattgab. 

Eine unterbringungsähnliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 4 BGB ist gegeben, wenn dem Betroffenen "über einen längeren Zeitraum" oder "regelmäßig" die Freiheit entzogen wird. Aus Sicht des BGH wird durch das wiederkehrende nächtliche Abschließen der Bewohnerin "regelmäßig" die Freiheit entzogen. Hier komme es nicht auf die Dauer des Freiheitsentzugs an. Auch eine 30minütige Wartezeit für das Türöffnen stelle einen Freiheitsentzug dar. Mit der Maßnahme habe die Einrichtung auch die Begrenzung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Die Einrichtung hatte im Verfahren mitgeteilt, dass das Verschließen der Außentür die Bewohner am Verlassen der Einrichtung hindern soll, um eine Selbstgefährdung zu verhindern.

Hinweis:

Der BGH stellt klar, dass das pauschale Verschließen der Außentür zum Schutz der Bewohner eine freiheitsentziehende Maßnahme ist, die im Einzelfall der Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf.

Allerdings hat der BGH auch noch einmal deutlich gemacht, dass die Einwilligung des einzelnen Betroffenen in das Verschließen der Tür (natürlicher Wille reicht aus) die Genehmigung durch das Betreuungsgericht überflüssig macht. Fehlt es mangels der Bildung eines natürlichen Willens an der Einwilligungsfähigkeit, sind die Anordnung der Maßnahme durch den gesetzlichen Betreuer und die Genehmigung durch das Betreuungsgericht erforderlich.

Der Bundesgerichtshof weißt noch auf einen weiteren Punkt hin: Zwar sei eine freiheitsentziehende Maßnahme im Zweifelsfall genehmigungsbedürftig, allerdings sei die Genehmigung dann nicht erforderlich, wenn ausgeschlossen werden könne, dass der Betroffene die Einrichtung verlassen will.


Bei Schuldunfähigkeit kann der Heimvertrag nicht wegen "schuldhafter Vertragsverletzung" gekündigt werden.

(Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 07.10.2014, 5 W 37/14)

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) hatte über die Wirksamkeit der Kündigung eines Wohn- und Betreuungsvertrags und den Wiedereinzug des Bewohners zu entscheiden, der aus der Psychiatrie in die Einrichtung entlassen werden sollte.

Im Jahr 2013 war zwischen der Behindertenhilfeeinrichtung und dem Betroffenen ein Wohn- und Betreuungsvertrag geschlossen worden. Bereits bei Einzug war bekannt, dass bei ihm eine geistige Behinderung sowie eine psychische Erkrankung mit erheblichen Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten besteht. Während des Aufenthalts in der Einrichtung griff der Bewohner wiederholt Mitbewohner sowie das Personal an. Im Mai 2014 wurde er in die Psychiatrie eingewiesen. Zugleich sprach die Einrichtung die fristlose Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags wegen schuldhafter Vertragsverletzungen des Bewohners aus.

Einige Monate verhandelten die gesetzlichen Betreuer mit der Einrichtung über eine alternative Unterbringung. Als dies scheiterte, beantragten sie eine einstweilige Anordnung zur Wiederaufnahme des Bewohners in die Einrichtung.

Das OLG gab der einstweiligen Anordnung statt. Es erklärte die fristlose Kündigung durch die Einrichtung für unwirksam, da diese den Wohn- und Betreuungsvertrag mit einem schuldunfähigen Bewohner nicht aufgrund "schuldhafter Vertragsverletzung" kündigen durfte. Aus Sicht des Gerichtes war der Einrichtung auch schon bei Aufnahme des Bewohners bekannt, dass dieser unter erheblichen Verhaltensauffälligkeiten leidet. Ferner wurde durch den Kostenträger eine zusätzliche Fachkraft zum Ausgleich des besonderen behinderungsbedingten Mehrbedarfs des Bewohners bewilligt. Dies alles verpflichte die Einrichtung zur Wiederaufnahme des Bewohners.

Anmerkung:

Dieser Beschluss des Schleswig-Holsteinischen OLG verdeutlicht, dass der Abschluss einer wirksamen Vereinbarung zum Ausschluss der Vertragsanpassung gemäß § 8 Abs. 4 WBVG mit den Bewohnern wichtig ist. Ferner ist es erforderlich, den Kreis der Personen, die in die Einrichtung aufgenommen werden können, sehr genau in der Konzeption zu definieren und auch hier die wortgleichen Ausschlussgründe aufzunehmen. Eine Kündigung schuldunfähiger Bewohner sollte keinesfalls wegen "schuldhafter Vertragsverletzung" erfolgen.


Auch die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen durch einen Vorsorgebevollmächtigten bedarf der Genehmigung durch das Betreuungsgericht.

(Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.06.2015, 2 BvR 1967/12)

Das Bundesverfassungsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob eine Anwendung des § 1906 Abs. 5 BGB die Betroffene in ihren Grundrechten verletzt. Hiernach hat auch ein Vorsorgebevollmächtigter die Genehmigung der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme durch das Betreuungsgericht zu beantragten.

Die Beschwerdeführerin lebt in einem Pflegeheim. Sie erhält Leistungen der Pflegestufe III. Sie hatte ihrem Sohn eine General- und Vorsorgevollmacht erteilt, die ihn auch zur Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen nach § 1906 BGB berechtigt. Aus Sicht der Betroffenen hat sie durch diese rechtsgeschäftliche Erklärung in Form der Vorsorgevollmacht entschieden, dass über den Freiheitsentzug allein ihr Sohn zu entscheiden hat und sie durch die gerichtliche Genehmigungspflicht in ihrem Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz verletzt wird.

Dieser Rechtsauffassung erteilte das Bundesverfassungsgericht eine klare Absage. Das Gericht sieht zwar in dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungsvorbehalt hinsichtlich einer freiheitsentziehenden Maßnahme einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, allerdings sei dieser Grundrechtseingriff durch die Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten gerechtfertigt. Auch diese staatlichen Schutzpflichten ergeben sich aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz. Die Regelung des § 1906 Abs. 5 BGB stelle eine Umsetzung der staatlichen Schutzpflichten dar. Eine nicht mehr einwilligungsfähige Person könne die Anordnung eines Freiheitsentzugs als bedrohlich empfinden. Hierfür mache es keinen Unterschied, ob der gesetzliche Betreuer oder der Vorsorgebevollmächtigte die Maßnahme angeordnet hat. Es entspreche daher der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber die Maßnahme unter den Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 BGB stellt.

Anmerkung:

Ordnet ein gesetzlicher Betreuer oder ein Vorsorgebevollmächtigter eine freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB oder eine freiheitsentziehende unterbringungsähnliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 4 BGB an, so bedarf die angeordnete Maßnahme immer der Genehmigung durch das zuständige Betreuungsgericht. Wird eine entsprechende Genehmigung nicht vom gesetzlichen Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten beantragt, darf die freiheitsentziehende Maßnahme nicht durchgeführt werden. Die Einrichtung sollte sich dann selbst an das Betreuungsgericht hinsichtlich der Genehmigung der Maßnahme wenden.


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Fotos © Joe Miletzki (Bundesgerichtshof), Schleswig-Holsteinisches OLG


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